Tantra ist ein Sanskritwort, das wörtlich „Gewebe, Kontinuum, Zusammenhang“ bedeutet¹. Es bezeichnet verschiedene Strömungen innerhalb der indischen Philosophie und Religion, die sich mit der Erfahrung und Erweiterung des Bewusstseins beschäftigen. Tantra ist keine einheitliche Lehre, sondern eine Vielfalt von Texten, Praktiken, Ritualen und Traditionen, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben. Es ist sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus vertreten, wobei es jeweils unterschiedliche Schwerpunkte und Ausprägungen gibt.
Die Ursprünge und Geschichte von Tantra
Die Ursprünge sind nicht eindeutig zu bestimmen, da es sich um eine mündliche Überlieferung handelte, die erst später schriftlich festgehalten wurde. Die ersten tantrischen Texte stammen aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., aber die Hochblüte von Tantra fand zwischen dem 7. und 12. Jahrhundert n. Chr. statt². Es wurde von verschiedenen religiösen, kulturellen und sozialen Einflüssen geprägt, wie z.B. dem Shivaismus, dem Shaktismus, dem Buddhismus, dem Jainismus, dem Tantraismus, dem Volks- und Stammesglauben, der Magie, der Astrologie, der Alchemie und der Medizin. Es war eine Reaktion auf die orthodoxen und ritualistischen Formen des Brahmanismus und des frühen Buddhismus, die als zu dogmatisch und weltfremd empfunden wurden. Es bot eine alternative und experimentelle Möglichkeit, sich mit dem Göttlichen zu verbinden, indem es alle Aspekte des Lebens, einschließlich des Körpers, der Sinne, der Sexualität, der Emotionen und der Natur, einbezog.
Die Lehren von Tantra
Sie basiert auf dem Konzept des Nicht-Dualismus, das besagt, dass alles im Universum miteinander verbunden und aus derselben Essenz besteht. Diese Essenz wird als Shakti bezeichnet, die kosmische Energie oder Kraft, die sich in verschiedenen Formen manifestiert. Shakti wird oft als weiblich und als Göttin verehrt, während Shiva, ihr männlicher Gegenpart, als reines Bewusstsein oder Prinzip angesehen wird. Die Vereinigung von Shiva und Shakti ist das Ziel von Tantra, das zur Befreiung (Moksha) oder zur Erleuchtung (Samadhi) führt. Um dieses Ziel zu erreichen, verwendet man verschiedene Methoden, wie z.B.:
- Mantras: heilige Silben oder Wörter, die rezitiert oder gesungen werden, um bestimmte Energien oder Gottheiten anzurufen oder zu beeinflussen.
- Yantras: geometrische Symbole oder Diagramme, die als visuelle Hilfsmittel oder Fokuspunkte für die Meditation oder Anbetung dienen.
- Mudras: symbolische Gesten oder Haltungen, die mit den Händen, dem Körper oder dem Gesicht ausgeführt werden, um bestimmte Zustände oder Kräfte auszudrücken oder zu aktivieren.
- Pranayama: Atemübungen oder -kontrolle, die dazu dienen, den Fluss von Prana, der Lebensenergie, im Körper zu regulieren oder zu harmonisieren.
- Kundalini: eine schlafende Energie, die sich am unteren Ende der Wirbelsäule befindet und durch verschiedene Techniken erweckt und zum Scheitel des Kopfes geleitet werden kann, was zu einer transzendenten Erfahrung führt.
- Chakras: Energiezentren oder -räder, die entlang der Wirbelsäule angeordnet sind und mit verschiedenen Aspekten des physischen, psychischen und spirituellen Seins korrespondieren.
- Yoga: ein System von körperlichen, geistigen und spirituellen Übungen, die darauf abzielen, den Körper, den Geist und die Seele in Einklang zu bringen und zu reinigen.
- Maithuna: rituelle oder sakrale Sexualität, die als ein Weg zur Vereinigung mit dem Göttlichen oder dem Partner verstanden wird, indem die sexuelle Energie sublimiert und transformiert wird.
Die Einteilungen von Tantra
Es ist keine homogene Bewegung, sondern umfasst verschiedene Schulen, Richtungen und Traditionen, die sich in ihren Lehren, Praktiken und Zielen unterscheiden. Eine mögliche Einteilung von Tantra ist die folgende:
- Buddhistische Tantras: Tantras, die sich innerhalb des Mahayana-Buddhismus entwickelt haben und die Lehren des Buddha mit tantrischen Elementen verbinden. Sie werden auch als Vajrayana (Diamantfahrzeug) oder Mantrayana (Mantrafahrzeug) bezeichnet. Sie sind vor allem in Tibet, Nepal, Bhutan, Mongolei und Japan verbreitet. Zu den bekanntesten buddhistischen Tantras gehören das Kalachakra-Tantra, das Guhyasamaja-Tantra und das Hevajra-Tantra.
- Hinduistische Tantras: Tantras, die sich innerhalb des Hinduismus entwickelt haben und die Lehren der Veden, der Upanishaden und der Puranas mit tantrischen Elementen verbinden. Sie werden auch als Agamas (Offenbarungen) oder Samhitas (Sammlungen) bezeichnet. Sie sind vor allem in Indien, Nepal, Sri Lanka und Indonesien verbreitet. Zu den bekanntesten hinduistischen Tantras gehören das Kularnava-Tantra, das Shiva-Samhita und das Kama-Sutra.
- Jainistische Tantras: Tantras, die sich innerhalb des Jainismus entwickelt haben und die Lehren der Tirthankaras mit tantrischen Elementen verbinden. Sie werden auch als Yantra (Instrument) oder Tantra (Regel) bezeichnet. Sie sind vor allem in Indien verbreitet. Zu den bekanntesten jainistischen Tantras gehören das Jvalamalini-Tantra, das Chakreshvari-Tantra und das Bhairavi-Tantra.
Die Rezeption im Westen
Tantra wurde im 19. und 20. Jahrhundert im Westen bekannt, vor allem durch die Werke von europäischen Orientalisten, Theosophen, Okkultisten und Esoterikern, die sich für die exotischen und geheimnisvollen Aspekte von Tantra interessierten. Tantra wurde oft missverstanden, verzerrt oder romantisiert, wobei der Fokus auf der sexuellen Komponente lag. In den 1960er und 1970er Jahren wurde der Begriff von der Hippie- und New-Age-Bewegung aufgegriffen, die es als eine Form der sexuellen Befreiung und spirituellen Erleuchtung ansah. Seit den 1980er Jahren gibt es eine wachsende Zahl von westlichen Lehrern, -Schulen und -Workshops, die verschiedene Formen anbieten, die oft als Neo-Tantra bezeichnet werden. Diese Formen von Tantra sind nicht immer authentisch oder traditionell, sondern oft an die Bedürfnisse und Erwartungen des westlichen Publikums angepasst. Es gibt auch eine wachsende Zahl von westlichen Forschern, -Gelehrten und -Praktikern, die sich bemühen, Tantra in seiner historischen, kulturellen und religiösen Vielfalt zu verstehen und zu würdigen.
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